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Forschung - Abteilung für Didaktik der Geschichte und Public History

Forschungsprojekte

Auf den Spuren Lea Grundigs in Israel

Eindrücke eines (überschatteten) Forschungsaufenthaltes in einem kleinen großen Land

Lisa Weck, April 2022

Seit Juli 2020 forschen Jeannette van Laak und ich im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekts zum Leben und Schaffen der deutsch-jüdischen Künstlerin Lea Grundig (1906-1977), das von einer zweifachen Migrationserfahrung  geprägt ist : von der Flucht aus NS-Deutschland 1940 ins Mandatsgebiet Palästina und von der Rückkehr nach Dresden in die Sowjetische Besatzungszone im Jahr 1948/49, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Ehemann Hans Grundig die Konzentrationslagerhaft und den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte.

Anfang März reisten wir nach Israel, um den Spuren der Künstlerin im vorstaatlichen Israel nachzuspüren. Unsere Reise begann in Tel Aviv, wo sie den Großteil ihrer Zeit in Palästina lebte. Ausgangspunkt unserer Erkundungen war die Bilustreet 29: ein unprätentiöses Wohnhaus in einer kleinen Straße, die parallel zum repräsentativen Rothschild-Boulevard und südlich des Habima-Theaters im Stadtteil Lev Hair liegt. Während der Rotschild-Boulevard eines der Aushängeschilder Tel Avivs darstellt, ist die Bilustreet eine gewöhnliche Straße, mit mehr oder weniger sanierten Häusern und einem Spielplatz. Sie bildete vermutlich so etwas wie den Lebensmittelpunkt von Lea Grundigs Leben ab 1943. Während wir die Straßen entlangliefen, fragten wir uns, wie ihr Leben wohl ausgesehen haben mag. Wir begannen uns vorzustellen, wie sie mit der Mappe unter dem Arm zu den nahegelegenen Verlagshäusern Dvir, Massada und Am Oved gelaufen ist, um dort ihre Illustrationsentwürfe für die Kinderbücher zu präsentieren.

Wir gingen ihre Wege: besuchten das Geschäft ihres Vaters Moses Langer auf der wuseligen Herzlstreet, die Wohnhäuser der Freunde und Bekannten, mit denen sie gemeinsam in der Kommunistischen Partei aktiv gewesen war, die Museen und Galerien, in denen sie ihre Bilder gezeigt hatte. Wir versuchten das Flair der immer noch jungen Küstenstadt aufzunehmen, ihre Bauhaus-Architektur und die weiß-grünen Straßenzüge.  Wir überlegten, wie sie wohl in den 1940er Jahren ausgesehen haben mag, was wir aus unserer Vorstellung ausklammern müssen und was nicht. Den überbordenden Verkehr, die hupenden Autos beispielsweise sicherlich, den Strand als Mittelpunkt des Lebens an sonnigen Tagen wohl eher nicht.

Besonders hier wurde uns die zuweilen unerträgliche Gleichzeitigkeit unserer Zeit deutlich, unternahmen wir unsere Forschungsreise doch nur wenige Tage nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine. Während wir tagsüber einem vergangenen Frauenleben nachgingen, fielen in Europa Bomben auf Häuser, wurden Männer in den Kampf geschickt und Frauen, Kinder und ältere Menschen verließen ihr Land. Damals wie heute passen Meer und Sonnenschein nur schwerlich zu Krieg und Zerstörung anderswo. Aufgrund der Sprachbarriere konnten wir die israelische Presse nicht verfolgen und waren auf die europäische Berichterstattung angewiesen: Europa, Deutschland und die Ukraine wurden unser Fluchtpunkt. Abends im Hotelzimmer ließen wir den Tag Revue passieren und lasen die Nachrichten des Tages, über die wir uns dann beim Frühstück am nächsten Morgen unterhielten. Anschließend schalteten wir immer wieder in den Arbeitsmodus, versuchten uns auf dieses Land, auf das Hier und Jetzt einzulassen.

Auch in Gesprächen mit Kolleg:innen, mit Freund:innen und Bekannten kamen wir auf das Thema zurück. So auch während eines Treffens mit einer Doktorandin der Hebräischen Universität Jerusalem, die für unser Projekt schon einige Übersetzungen aus dem Hebräischen übernommen hatte. Sie empfing uns in ihrer Wohnung in einem jener Bauhaus-Häuser der 1920er und 1930er Jahre. Als Tochter von jüdisch-ukrainischen Kontingentflüchtlingen, die sich Anfang der 1990er in der niedersächsischen Provinz niedergelassen hatten, hatte sie erst letztes Jahr ihre Alija gemacht. Nachdem sie auf diese Weise Frieden mit einem Teil ihrer Identität gemacht habe, breche der andere Teil nun wie eine Welle über sie herein. So bekamen wir einen sehr unmittelbaren Eindruck von einer Facette der Lebenswirklichkeit dort, die auch Leas im Mandatspalästina der 1940er Jahre nicht unähnlich gewesen sein wird: obwohl man selbst zwar weit weg vom Geschehen in Europa ist, sind Augen und Ohren stets dahin ausgerichtet.

Da sich in Jerusalem die wichtigsten Kulturinstitutionen des Landes befinden, führte uns unser Weg in der zweiten Woche dorthin. Für die Ortswechsel nutzten wir die öffentlichen Verkehrsmittel, Bus und Bahn. Wir meinten, so möglichst authentisch zu reisen, da sich auch Lea auf diese Weise durch das Land bewegte. Es war oft abenteuerlich, da wir nicht immer wussten, ob das Guthaben auf der Rav-Kav-Karte für die Reise reichte, ob uns nicht wieder der Bus vor der Nase wegfuhr, wie nach Be´er Sheva, ob wir die richtige Plattform fanden oder das Navi richtig verstanden.  In Jerusalem dann sahen wir die Lea-Grundig-Sammlung im Israel Museum ein, studierten die von ihr illustrierten Kinder- und Jugendbücher in der Nationalbibliothek und nahmen die Briefe ihres Ehemannes Hans Grundig ins Dresdner Gefängnis, in dem sie von 1938 bis 1939 wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ saß, in Augenschein.

Bindung der Briefmappe mit Briefen Hans Grundigs von 1938-1939. Fotos: Jeannette van Laak

Bindung der Briefmappe mit Briefen Hans Grundigs von 1938-1939. Fotos: Jeannette van Laak

Bindung der Briefmappe mit Briefen Hans Grundigs von 1938-1939. Fotos: Jeannette van Laak

Einband der Briefmappe mit Briefen Hans Grundigs von 1938-1939. Foto: Jeannette van Laak

Einband der Briefmappe mit Briefen Hans Grundigs von 1938-1939. Foto: Jeannette van Laak

Einband der Briefmappe mit Briefen Hans Grundigs von 1938-1939. Foto: Jeannette van Laak

Diese Briefe sind von besonderem Wert, denn sie gewähren uns nicht nur Einblicke in die Paarbeziehung, sondern auch in die zusehends auswegloser werdende Situation deutscher Juden und Jüdinnen am Ende der 1930er Jahre. Und sie bergen ein Rätsel: das Rätsel ihrer Provenienz. Wie sind sie nach Palästina gekommen? Und wie gelangten sie schließlich ins Archiv der weltbekannten Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem? Wenngleich die Briefe als Kopien im Archiv der Hochschule für Bildende Künste Dresden einsehbar sind, über ihre Materialität verrieten die Kopien kaum etwas. Wir stellten fest, dass Lea die beinahe 80 Briefe ihres Ehemannes in mühseliger Feinarbeit zusammengebunden und sogar einen Harteinband aus den Umschlägen der Briefe angefertigt hatte, dass sie eine sehr persönliche Briefmappe erstellt hatte, die sie wie einen Schatz hütete. Am überraschendsten war die Sorgfältigkeit der Mappe selbst und ihr sehr guter Erhaltungszustand. Letzteres überraschte umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Künstlerin zu den Überlebenden des Unglücks auf der Patria gehörte. Die Mitglieder der Hagana hatten einen Sprengsatz deponiert, um das Auslaufen des Schiffes im November 1940 zu verhindern, das die Passagiere in ein Lager auf Mauritius bringen sollte. Da sich Grundig wie zahlreiche andere Flüchtlinge bereits auf dem Schiff befunden hatte, rechneten wir mit Wasserflecken oder andere Beschädigungen.

Ein Besuch in der Altstadt überzeugte uns dann von Jerusalem als Melting Pot. In der Grabeskirche nahmen wir an einer Prozession der sechs unterschiedlichen Konfessionen teil, die eine ganz besonders eigenwillige Atmosphäre erzeugten. Hier war Israel auch für uns, was es für die meisten Menschen bedeutet: Holy Land.

Unsere dritte Station führte uns nach Haifa. Hier hatte Grundigs Palästina-Aufenthalt im Oktober 1941 begonnen, nachdem sie das britische Flüchtlingslager Atlit südlich Haifas hatte verlassen können. Wir besichtigten unter anderem das Wohnhaus der Schwester Marie, bei deren Familie Lea nach der Entlassung im Oktober 1941 für einige Monate lebte. Wir besuchten das Hermann-Struck-Museum, das dem Künstler bis 1944 als Wohnhaus und Atelier diente. Lea besuchte einen seiner Grafik-Kurse. Hierfür musste sie nur wenige Schritte die Arlozorvstreet den Carmel hinunterlaufen.

Ein weiterer Höhepunkt unserer Reise war das Treffen mit Yoram Schiffmann und seiner Frau Noemi. Seine Mutter war eine enge Freundin der Künstlerin gewesen, die dem Sohn ihrer Freundin illustrierte Karten zum Geburtstag angefertigt hatte. Schiffmans zeigten uns ihre Schätze, u.a. Porträts von Familienangehörigen, die Lea gezeichnet hatte, und erzählten uns Anekdoten, die vor uns eine sehr humorvolle und lebensbejahende Frau lebendig werden ließen. Sie berichteten uns auch von ihren eigenen Nachforschungen zum Leben Grundigs, die sie vor einigen Jahren unternommen hatten.

Porträtzeichnung von Yoram Schiffmann. Bildunterschrift von 
Lea Grundig: „Meinen lieben vier Schiffmanns. 4.1942 HAIFA“. 
Foto von Lisa Weck vom März 2022 aus der Sammlung Schiffmann.

Porträtzeichnung von Yoram Schiffmann. Bildunterschrift von Lea Grundig: „Meinen lieben vier Schiffmanns. 4.1942 HAIFA“. Foto von Lisa Weck vom März 2022 aus der Sammlung Schiffmann.

Porträtzeichnung von Yoram Schiffmann. Bildunterschrift von
Lea Grundig: „Meinen lieben vier Schiffmanns. 4.1942 HAIFA“.
Foto von Lisa Weck vom März 2022 aus der Sammlung Schiffmann.

Auch wenn die Küsten- und Hafenstadt Haifa der erste Ort war, den die Immigrantin Lea Grundig an Deck des rettenden Flüchtlingsschiffes von ihrer zukünftigen Heimat erblickte, bereisten wir die Stadt am Carmel-Gebirge zum Schluss unserer Forschungsreise. Die Reihenfolge unseres Aufenthalts war zwar eher pragmatischen Gründen geschuldet, erwies sich im Nachhinein aber als glücklich. Nachdem uns das junge und europäische Tel Aviv ein leichtes Ankommen in Israel ermöglicht hatte, gingen wir vor allem in Jerusalem dem klassischen Tagwerk von Historikerinnen in Archiven und Bibliotheken nach. Wir fanden so auf unserer Reise spannende Briefe Leas aus ihrer Palästina-Zeit, die in Deutschland bislang unbekannt sind.

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