Professur für Geschichte des Mittelalters
Prof. Dr. Georg Jostkleigrewe
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Geschichte des Mittelalters
Wer hinter die Dinge blicken möchte, muß fragen, warum so über sie gesprochen wird, wie gesprochen wird.
Wer kennt es nicht - das finstere Mittelalter, in dem Frauen, Bauern, Andersgläubige und Randgruppen von „der Kirche“ und „dem Adel“ geknechtet wurden, in dem brutale Gewalt alltäglich und Fanatismus die Regel war? Wer kennt andererseits nicht die Mittelaltermärkte, Reenactmentveranstaltungen, Tourismusbroschüren und Filme, in denen uns eine (pseudo-)mittelalterliche Welt bunt, prall und exotisch entgegentritt? Mit dem historisch belegten Mittelalter haben all diese Bilder wenig zu tun. Tatsächlich war das Mittelalter weder so finster, wie moderne Zerrbilder suggerieren, noch eignet es sich als nostalgischer Sehnsuchtsort. Gerade deshalb ist diese Zeit eine hochspannende Epoche. Ohne ihre Kenntnis können wir weder die Geschichte der Antike noch vor allem der Neuzeit verstehen.
Tatsächlich wurzeln viele Phänomene, die uns typisch modern erscheinen, im Mittelalter. Das gilt für viele der heutigen Nationen ebenso wie für den Roman, die Kommanditgesellschaft, bestimmte Moralvorstellungen, den Karneval, stehende Heere, die Globalisierung, das Völkerrecht, Souveränitätskonzepte und andere Elemente moderner Staatlichkeit, die Universitäten und vieles mehr. Andererseits sind diese Wurzeln der Moderne in eine mittelalterliche Welt eingebettet, die in vielfacher Hinsicht ganz anders funktioniert als die heutige. Insofern bewegt sich die Mediävistik - die Wissenschaft vom Mittelalter - stets im Spannungsfeld von Modernität und Alterität ihres Untersuchungsgegenstandes.
Wer die mittelalterlichen Gesellschaften begreifen möchte, muß daher auch die „fremden“, alteritären Codes und Vorstellungswelten dieser Epoche kennenlernen. Zur mediävistischen Grundausbildung gehört deshalb die Beschäftigung mit mittelalterlichen Weltvorstellungen, Rechts-, Sozial- und Wertesystemen sowie der Religiosität (die sich von der heutigen christlichen Religiosität z. T. deutlich unterscheidet). Wichtig ist auch die Erlangung hilfswissenschaftlicher und quellenkundlicher Kompetenzen: In welchen Formen ist eine mittelalterliche Urkunde abgefaßt? Wie funktioniert mittelalterliche Historiographie - worüber berichten die verschiedenen Chronik(arten)? Welche Aufschlüsse lassen sich aus mittelalterlichen Wappen, Münzen, Siegeln ziehen?
Forschung
An der hallischen Mittelalterprofessur erforschen wir Alterität und Modernität vor allem im Blick auf mittelalterliche Konfliktführung: Welche Maßnahmen ergreift man, um den jeweiligen Gegnern zu schaden - und wie begründet man diese Maßnahmen? Wie dämonisiert man seinen Gegner - und wie schafft man es, später dennoch mit ihm zu verhandeln? Wann greift man zu Gewalt, wann ruft man Gerichte an? Im Zentrum unserer Arbeit stehen zwei Konflikttypen: zum einen die Auseinandersetzungen zwischen Parteiungen an Höfen, aber auch in den Adels- und Stadtgesellschaften der Epoche; zum anderen lokale Auseinandersetzungen, die oft als „Fehde“ oder (Privat-)„Krieg“ und parallel vor Gericht geführt werden.
Den geographischen Schwerpunkt unserer Forschung bildet zum einen Mitteldeutschland und der Nordostseeraum einschließlich des Ordenslandes Preußen. Zum anderen und vor allem erforschen wir die Geschichte des (spät-)mittelalterlichen Frankreich. Die Förderung frankreichbezoger Kenntnisse und Kompetenzen ist ein zentrales Anliegen. Wir kooperieren zu diesem Zweck mit Forscherinnen und Forschern in Frankreich und anderen Ländern sowie mit Institutionen wie dem Deutschen Historischen Institut Paris und der Deutsch-Französischen Hochschule.
Lehre
In der Lehre behandeln wir darüber hinaus ein breites Spektrum weiterer Gegenstände - von Umweltgeschichte und internationalen Konflikten wie dem sogenannten Investiturstreit über die Weltbilder früh- und hochmittelalterlicher Chronisten und die Handelspraktiken mittelalterlicher Kaufleute bis hin zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit mittelalterliche Sodomie (~ Homosexualität) und Versuchen der praktischen Anwendung mittelalterlicher Magie (bislang allerdings ohne Erfolg). Kurzum: Wer sich von der Andersartigkeit des Mittelalters und den damit zusammenhängenden Herausforderungen nicht abschrecken läßt, wird sowohl historische Kenntnisse und methodisches Rüstzeug erlernen, die auch beim Studium anderer Epochen und Kulturen nützlich sind, als auch eine moderne Mediävistik kennen lernen, die reflektiert und interdisziplinär arbeitet und in europäischen Zusammenhängen argumentiert.