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Judenfrage

Die Judenfrage im europäischen Vergleich. Gesellschaftliche Debatten über die Stellung der Juden im mittleren und östlichen Europa vom 18. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre

(gefördert von der VW-Stiftung)

1. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stand die "Judenfrage" auf der politischen Tagesordnung zahlreicher europäischer Gesellschaften und Nationen. Sie war Teil jener grundlegenden Transformationsprozesse, die sich mit dem Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, der Staaten- und Nationsbildung und der Industrialisierung in unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit in den verschiedenen Teilen Europas vollzogen.

Mit dem Begriff der "Judenfrage" werden hier die Auseinandersetzungen um die rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der jüdischen Minderheit in den verschiedenen europäischen Gesellschaften zusammengefaßt. Sie sollen als Prozesse gesellschaftlicher Selbstverständigung einerseits über die Stellung der Juden, andererseits - als Bedingung hierfür - über die Grundprinzipien der staatsbürgerlichen Neuordnung untersucht und analysiert werden. Grundlegend hierbei ist die Auffassung, daß mit der "Judenfrage" die fundamentale Herausforderung ausgesprochen wurde, die das neue Leitbild der Zivilgesellschaft für Juden und Nichtjuden darstellte - die Beseitigung tradierter rechtlicher Unterschiede im Hinblick auf eine staatsbürgerliche Gleichstellung der in der ständisch verfaßten Gesellschaft unterschiedenen sozialen Gruppierungen. Exemplarisch läßt sich an den Debatten um die "Judenfrage" - so die Arbeitshypothese des Vorhabens - aufzeigen, daß die Idee der Zivilgesellschaft als gemeinsame Zielvorstellung im Europa der Gegenwart sich aus unterschiedlichen nationalen Vergangenheiten entwickelte. Die national verschieden formulierten "Judenfragen" dienen als Indikator, um diese unterschiedlichen Traditionen und ihre prägende Rolle für das zivilgesellschaftliche Selbstverständnis zu untersuchen.

2. Als Rahmen für die Analyse der Auseinandersetzung um die "Judenfrage" wird von zwei Bedingungsfaktoren ausgegangen, die für den Verlauf der Gleichstellung der Juden in den einzelnen Ländern und schließlich auch für den Zeitpunkt ihrer legislativen Umsetzung grundlegend war. Sie stellen einerseits gemeineuropäische Voraussetzungen dar, wirken aber in ihrer national je unterschiedlichen Ausprägung zugleich als Erklärungsfaktoren für die Vielfalt der Entwicklungswege in Europa:

  • Zum einen ist das Aufkommen der "Judenfragen" in Europa auf das engste verknüpft mit der Formierung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Modernisierungsbestrebungen, die - wenn auch aufgrund unterschiedlicher sozialer, rechtlicher, wirtschaftlicher und politischer Voraussetzungen teilweise zeitlich verschoben - auf die Schaffung einer bürgerlichen Gesellschaft abzielten. Staatlich-administrative Maßnahmen im Hinblick auf eine grundsätzliche Neuregelung des Status der jüdischen Minderheit markierten ebenso wie die öffentlichen Debatten über die bürgerliche Gleichheit und den Status dieser (wie anderer) religiöser Minderheiten deutlich den sich vollziehenden Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft.
  • Zum anderen ist die Frage der Gleichstellung der Juden auf das engste gebunden an die Staatsbildungsprozesse innerhalb nationaler Grenzen im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Prägend war insbesondere die Vorstellung einer weitgehenden Homogenisierung der Nation. Es gab sehr unterschiedliche Konzepte der Zugehörigkeit - politisch-liberale oder solche, die auf religiöser, kultureller oder ethnischer Einheit basierten, und solchen, die verschiedene koexistierende nationale Projekte in einer Nation zusammenzubinden suchten. Welches Prinzip jeweils zum dominanten wurde, bestimmte in hohem Maße die Möglichkeiten von Juden, als ethnisch-religiöse Minderheit Teil einer Nation werden zu können. Nicht zuletzt hieraus erklärt sich auch der sehr unterschiedliche Verlauf der Emanzipation der Juden in den europäischen Ländern.

3. Ausgehend von diesen beiden Grundannahmen lassen sich für das Vorhaben mehrere Leitfragen formulieren, die den inhaltlichen Rahmen des Projekts abstecken und dieses vor allem im Hinblick auf einen Vergleich zwischen den zu untersuchenden europäischen Gesellschaften strukturieren:

a) Zu fragen ist nach der Rolle des Staates. Inwieweit war er initiativ in den Auseinandersetzungen um die "Judenfrage", bzw. reagierte er auf entsprechende gesellschaftliche Initiativen? Damit im Zusammenhang stehen auch die unterschiedlichen Erwartungshaltungen gegenüber dem Staat sowie die unterschiedlichen Gestaltungsversuche der staatlichen Exekutive und Verwaltung im Hinblick auf die Emanzipation.

b) Zum Teil eng damit verbunden, zum Teil aber auch davon getrennt ist auf die Etablierung nationaler Deutungsmuster einzugehen. Denn das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in den einzelnen Gesellschaften war eng gebunden an die sich entwickelnden Selbstbilder als 'Nation' bzw. 'Volk'.

c) Einen wesentlichen Faktor in den Auseinandersetzungen um die "Judenfrage" stellte in fast allen Ländern der Umfang sowie die soziostrukturelle Zusammensetzung der jüdischen Minderheit dar. Während die westeuropäischen Gesellschaften kaum bedeutende Minderheiten besaßen, die als ethnisch "anders" definiert werden konnten, waren die Verhältnisse in Mittel- und Ostmitteleuropa sehr viel uneindeutiger, handelte es sich hierbei doch um Gebiete, in denen verschiedene Ethnien, Religionen und Nationen auf engstem Raum zusammenlebten. Was die Juden in den meisten dieser Regionen von der übrigen Bevölkerung unterschied, war (auch) ihre spezifische Berufs- und Sozialstruktur, die die Distanz zwischen Juden und Nichtjuden verstärkte und von daher nicht zufällig zu einem wesentlichen Thema in den Emanzipationsdebatten wurde.

d) Damit eng verknüpft ist auch die Frage nach den Argumentationsstrategien und politischen Handlungsweisen der Emanzipationsgegner. Wie präsent waren sie in den einzelnen Ländern, und inwieweit gelang es ihnen, entscheidend und nachhaltig in die Debatten einzugreifen? Diesen Fragen soll nicht nur für die Debatten im 19. Jahrhundert nachgegangen werden, sondern auch für das frühe 20. Jahrhundert und insbesondere die Zwischenkriegszeit. Dies erscheint nicht nur im Hinblick auf die sich konstituierenden Nationalstaaten im mittel- und osteuropäischen Raum, sondern auch mit Blick auf die Radikalisierung der Argumentations- und Handlungsstrategien der antisemitischen Bewegungen von besonderer Bedeutung.

e) Wie reagierten die jüdischen Minderheiten auf den Emanzipationsprozeß? Nur, wenn man diesen Aspekt mit in die Untersuchung einbezieht, können die Debatten um die "Judenfrage" als Prozeß des gesellschaftlichen Aushandelns zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen verstanden werden. Denn auch für die jüdische Minderheit bedeutete die Emanzipation sowohl auf individueller wie kollektiver Ebene einen tiefgreifenden Einschnitt, der zahlreiche Konsequenzen hinsichtlich der individuellen Lebensführung, der Religiosität, des Gemeindelebens, aber auch in Bezug auf die Herausbildung neuer Identitätsentwürfe nach sich zog. Somit soll es nicht nur darum gehen, nach den jüdischen Protagonisten in der Debatte um die "Judenfrage", ihren Motiven und Handlungsstrategien zu fragen, sondern auch nach den Folgen des Emanzipationsprozesses für die jüdische Minderheit und ihre Stellung innerhalb der Nationalgesellschaften.

f) Schließlich sollen auch die transnationalen Aspekte der "Judenfrage" analysiert werden. Die Debatten und Auseinandersetzungen in den einzelnen Ländern korrespondierten in wesentlichen inhaltlichen Schwerpunkten miteinander, sie bezogen sich - trotz unterschiedlicher Voraussetzungen und Bedingungen - aufeinander. Ein zentraler Schwerpunkt des Vorhabens wird daher sein, derartige Korrespondenzen, aber auch Divergenzen herauszuarbeiten.

4. Eine diachron angelegte Analyse der "Judenfrage" in Europa, wie sie in dem Vorhaben angestrebt wird, muß sich auf exemplarische Debatten in den einzelnen Ländern konzentrieren, um sowohl Kontinuitäten als auch Brüche und thematische Verschiebungen innerhalb der Auseinandersetzungen herauszuarbeiten. Das geplante Projekt arbeitet mit einem klassischen Öffentlichkeitsbegriff, indem es öffentliche Debatten, d.h. medial vermittelte Kontroversen untersucht. Zentral hierbei ist, daß gesellschaftliche Aushandlungsprozesse untersucht werden sollen - mit Juden und über Juden. Indem es jeweils um die Stellung der jüdischen Minderheit in den einzelnen europäischen Gesellschaften geht, ist das klassische Definitionsmerkmal für Öffentlichkeit - Sprecher kommunizieren vor einem Publikum, dessen Grenzen sie nicht festlegen können - für die Debatten über die Judenfrage konstitutiv. Die Debatten und Auseinandersetzungen wurden - so die Arbeitshypothese des Vorhabens - zu einem zentralen Faktor der Veränderung, wurden Juden einerseits zu Teilnehmern der debattierenden Öffentlichkeit, während gleichzeitig die Debatten unmittelbare Auswirkungen auf die gesellschaftliche Position der jüdischen Minderheit hatten.

Im Hinblick auf die skizzierten Fragestellungen sollen die Debatten in fünf Ländern (Deutschland, England, Böhmen/Mähren bzw. Tschechoslowakei, Polen und Ungarn) untersucht werden. Der Schwerpunkt auf die Auseinandersetzungen im mittel- bzw. ostmitteleuropäischen Raum wird vor allem deshalb gewählt, da diese - etwa im Vergleich mit denen in Westeuropa - bisher in der Historiographie nur unzureichend berücksichtigt worden sind. Damit den Blick für die Differenzen, aber auch die Gemeinsamkeiten im Umgang mit der "Judenfrage" im europäischen Kontext zu öffnen, ist ein zentrales Ziel des Forschungsvorhabens.

Laufzeit: 2005-2008

Mitarbeiter:
Dr. Andreas Reinke
drei Doktoranden aus Polen, Tschechien, Ungarn (ab 1.1.2006)

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