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Bürgerliche Netzwerke. Städtisches Vereinswesen als soziale Struktur – Halle im Deutschen Kaiserreich (Publikation erscheint bei V & R im April 2017)

http://www.v-r.de/de/buergerliche_netzwerke/t-1/1037554/   

Im Dissertationsprojekt wurden das Verständnis von Verein sowie die soziale Praxis im Vereinswesen der Kaiserreichszeit untersucht. Die Relevanz der Studie ergibt sich vor allem aus zwei Punkten: Erstens liegen bisher kaum Arbeiten vor, die ein städtisches Vereinswesen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in seiner Gesamtheit in den Blick nehmen. Daran hat auch die Wertschätzung des Vereins in der Zivil- und Bürgergesellschaftsforschung nichts geändert. Die Hochphase von Vereinsgründungen im „langen“ 19. Jahrhundert, die von komplexen Ausdifferenzierungsprozessen und gesellschaftlichen Krisenwahrnehmungen der Zeitgenossen geprägt war, ist damit weitgehend aus dem Blick geraten. Zweitens ist auch die „alte“ Frage der historischen Bürgertumsforschung nach dem Zusammenhalt oder der Existenz einer Sozialformation „Bürgertum“ keineswegs befriedigend beantwortet – als zu disparat erschienen Klassenlagen und Kultur der bürgerlichen Gruppen. Insbesondere soziale Beziehungen, anhand derer Muster gegenseitiger „sozialer Schätzung“ (Max Weber) untersucht werden können, sind kaum erforscht.

Welche Muster gesellschaftlicher Integration bzw. Desintegration kennzeichnen das Vereinswesen einer deutschen Großstadt in der Kaiserreichszeit? Dieser Fragestellung des Dissertationsprojektes lag die Annahme zugrunde, dass für den integrativen Zusammenhang einer Gesellschaft nicht nur Formen der wirtschaftlichen, funktionalen und politischen Integration ausschlaggebend sind, sondern die Partizipation von Menschen an sozialen Zusammenschlüssen im Verein sowie die Möglichkeit, über diese Vereinigungen gemeinsame Zwecke zu verfolgen und dergestalt die (lokale) Gesellschaft gestaltend beeinflussen zu können, erheblichen Anteil daran hat.

In mehrfacher Hinsicht leistet die Arbeit durch diesen Ansatz sowie durch innovative methodische Zugänge einen wertvollen Beitrag zur Bürgertums- wie auch zur historischen Zivilgesellschaftsforschung. Dies wird im Folgenden anhand der Darstellung des Vorgehens und der Ergebnisse verdeutlicht:

  • Im ersten Teil wurde das analytische und zeitgenössische Begriffsverständnis von Verein umfassend problematisiert. Analytisch ist der Verein in der bisherigen Forschung nur unzulänglich bestimmt worden. Fragen nach Partizipationsmustern und Funktionen des Vereins in der Gesellschaft können jedoch nur beantwortet werden, wenn seine grundlegenden Charakteristika wie Freiwilligkeit, Autonomie und demokratische Mitbestimmungsrechte nicht als ahistorische Konstanten begriffen werden, sondern als Merkmale, die ein Spannungsfeld konstituierten, in dessen Rahmen ein breites Spektrum an diversifizierter Ausgestaltung des organisationalen Settings möglich war. Durch die Auswertung juristischer und zeitgenössischer Definitionen sowie der Nutzung organisationssoziologischer Konzepte ist ein idealtypisches Verständnis entwickelt worden, dass für die weitere Forschung fruchtbar sein kann.
    Das Vereinswesen als gesellschaftlicher Handlungsraum wird nicht nur von Forschern in seiner Reichweite „vermessen“, sondern auch von den Zeitgenossen selbst. In einem neuartigen begriffsgeschichtlichen Ansatz wurde nicht von der Höhenkammliteratur der Zeit ausgegangen, sondern Systematisierungen in den städtischen Adressbüchern, die eine Anleitung für die Orientierung im Alltag der Stadt offerierten, untersucht. Dabei wurde aufgezeigt, dass sich unser heutiges Verständnis von Verein im Wesentlichen in der Kaiserreichszeit ausprägte. Während der Vereinsbegriff noch zur Jahrhundertmitte sehr weit gefasst war, bildete sich im Kaiserreich ein Verständnis heraus, dass im Kern auf den idealen, nicht-wirtschaftlichen Verein rekurrierte. Wenn auch eine Differenzierung zwischen Vereinen und (überregionalen) Verbänden noch nicht erfolgte, rückte mit diesem Begriffsverständnis der durch die Partizipation der Mitglieder bestimmte Verein eindeutig in den Vordergrund.
  • Im zweiten Hauptteil wurden die soziale Struktur des Vereinswesens einer deutschen Großstadt, Halle an der Saale, analysiert und dabei alle Vereine der Stadt berücksichtigt, die in den Adressbüchern erfasst worden sind. Mit der Reichsgründung setzte nicht nur ein Boom an Vereinsgründungen ein, sondern dieser hielt bis zum Ende des Untersuchungszeitraums an. Zudem bestand ein erhebliches Maß an Konstanz (66,4% aller im Kaiserreich gegründeten Vereine bestanden bis zum Ende des Untersuchungszeitraums fort), weshalb Vereine dauerhafte Angebote zur Netzwerkbildung und Organisation verschiedenster Zwecksetzungen offerierten. Der quantitative Anstieg wirtschaftlicher Interessenorganisationen und von Vereinen zur Freizeitgestaltung indiziert zwar eine verstärkte Partikularisierung der Zweckausrichtung der Vereine. Zugleich stieg jedoch auch die Zahl der im protestantischen Milieu der Stadt angesiedelten und auf das „Gemeinwohl“ orientierten wohltätigen Vereine erheblich.
    Die Muster sozialer Integration von Menschen im sich zunehmend ausdifferenzierenden Vereinswesen wurde mit der in den Geschichtswissenschaften erst seit einigen Jahren Verwendung findenden Sozialen Netzwerkanalyse untersucht. Unter Sozialintegration wurde dabei das Teil-Sein von Menschen in face-to-face-Netzwerken verstanden. Mit dieser Methode ist aufgezeigt worden, dass sich die Netzwerke im Halleschen Vereinswesens bis zum Ende des Kaiserreichs nicht nur immer stärker verdichteten, sondern dass die verschiedenen bürgerlichen Teilgruppen – Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger, höhere Beamte – dabei untereinander die meisten Beziehungen eingingen und in dieser Hinsicht eine Sozialformation „Bürgertum“ konstituierten. Insbesondere die wohltätigen und sozialen Vereine der Stadt führten Angehörige des Bürgertums zusammen – sie waren sein maßgebliches gesellschaftliches Integrationszentrum. Während Arbeiter an diesen Netzwerken so gut wie keinen Anteil hatten, waren insbesondere Angehörige des so genannten Neuen Mittelstandes und auch Teile des Alten Mittelstandes in die Kontaktnetze des Bürgertums integriert.
  • Teilhabe und gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten hängen maßgeblich davon ab – so wurde in der Arbeit argumentiert –, ob Menschen durch mehrfache Mitgliedschaften über größere Kommunikations- und Informationspotentiale verfügten und in welchen Vereinen bzw. Vereinstypen sie diese geltend machen konnten. Im dritten Hauptteil wurde herausgearbeitet, dass – mit unterschiedlicher Verteilung auf seine Teilgruppen – vor allem Angehörige des höheren Bürgertums diese Positionen einnahmen und vorrangig in Vereinen aktiv waren, die hinsichtlich ihrer Zwecksetzung einen konkreten Außenbezug (politische, wirtschaftliche und wohltätige Vereine) aufwiesen. In noch höherem Maße traf dieses Vernetzungsmuster auf Angehörige des städtischen Liberalismus zu. Auch mit Blick auf die Teilhabe in bedeutenden bürgerlichen Vereinen ist eine klare Abschottung der „politischen Lager“ (Karl Rohe) der Stadt zu konstatieren – die politische Arbeiterschaft wurde rigoros ausgegrenzt.

Die Entwicklung des Bürgertums in der Kaiserreichszeit kann nicht einfach als Geschichte seines Niedergangs geschrieben werden. Im Dissertationsprojekt ist zum einen durch die Auswertung tatsächlich realisierter sozialer Beziehungen der Nachweis geführt worden, dass sinnvoll von einer Sozialformation „Bürgertum“ gesprochen werden kann. Zum anderen ist gezeigt worden, dass Bürger durch ihre Positionen im Netzwerk auch am Ende der Kaiserreichszeit die städtische Gesellschaft in erheblichem Maße prägten. Jedoch ist ebenso ersichtlich geworden, dass durch die zunehmende Ausdifferenzierung von Interessen und den Gegensatz zur Arbeiterbewegung weite Teile der Gesellschaft keinen Anschluss an diese Beziehungsnetze fanden. Vor allem mit Blick auf die Analyse dieser Beziehungsnetzwerke versteht sich die Studie als Pionierarbeit, die zu weiterer Forschung der sozialen Vernetzung im städtischen Raum und darüber hinaus anregen möchte. Dies gilt auch mit Blick auf die zahlreichen analytischen Anstöße zur Erforschung des Vereinswesens, die nach Meinung des Autors in vielfacher Hinsicht erst am Anfang steht.

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