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Laufende Forschungsprojekte

Von der „Stadt Gottes“ zur „Schulstadt“ im Schulstaat. Eine Bildungs- und Organisationsgeschichte der Franckeschen Stiftungen im 19. Jahrhundert.

Das Ziel des Habilitations-Projektes ist eine Bildungs- und Organisationsgeschichte der Franckeschen Stiftungen in Halle im 19. Jahrhundert. Das von August Hermann Franke gegründete und bald um verschiedene Schulen und erwerbende Institute erweiterte hallesche Waisenhaus hat als Zentrum des Pietismus, als Ausgangspunkt weitreichender Reform- und Missionstätigkeit sowie als einstmals größte Bildungsanstalt des Alten Reiches für das 18. Jahrhundert in der internationalen Forschung große Aufmerksamkeit gefunden. Das Forschungsinteresse an dieser einzigartigen „Schulstadt“ erlahmt jedoch vielfach mit dem Niedergang des Pietismus und vollends mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, und das obwohl die „Franckeschen Stiftungen“ da als Marke doch gerade erst erfunden wurden. Wenn das Projekt danach fragt, ob und inwiefern es die „Franckeschen Stiftungen“ auch im 19. Jahrhundert (noch) gegeben hat, so reagiert dies also einerseits auf diese eklatante Forschungslücke einer „Nachgeschichte des Pietismus“, andererseits aber soll untersucht werden, wie denn die Einheit und Autonomie einer solch heterogenen Anstalt im 19. Jahrhundert überhaupt hergestellt und nach innen wie nach außen vermittelt werden konnten – oder grundsätzlicher: was machen Organisationen eigentlich, wenn der sie tragende Geist seinem Gehäuse entwichen ist?

Unter dieser Fragestellung analysiert das Projekt, erstens, das Verhältnis der zehn (und mehr) Bildungs- und Erziehungseinrichtungen der Schulstadt zu einander und zur Verwaltung durch das Direktorium. Wie wurden hier institutionelle Einheit und, nicht zuletzt: soziale Unterschiedlichkeit der Schulen verhandelt? Welche Kommunikations- und Entscheidungswege etablierten sich hier, welche Rolle spielte die organisatorische Verfasstheit der Stiftungen und wie wurde das ganze eigentlich finanziert? Notorisch sind seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Klagen über die finanziell desaströse Lage der Stiftungen und Schulen, genauso übrigens wie die Vorstellungen des Publikums vom vermeintlichen Reichtum der Anstalten, der sich am Vorabend des ersten Weltkriegs tatsächlich auf rund ein Drittel des gestifteten Bildungskapitals in Preußen belief. Doch wie es dazu kam, wie die „Stiftungen“, die rechtlich ja gar keine Stiftung waren, Kapital und Einkommen verwalteten, unter den Einrichtungen verteilten und trotz zahlreicher kritischer Phasen zuletzt auch vermehrten, wird hier zu untersuchen sein.

Da sich die Transformation der Franckeschen Stiftungen von der „Stadt Gottes“ zur „Schulstadt“ zeitgleich mit dem Ausbau des preußischen „Schulstaates“ vollzog und dieser sich zunehmend auch an der Finanzierung der Schulen beteiligte, ist, zweitens, das Verhältnis der Stiftungen zum Staat zu analysieren. Einst als „Annexum der Universität“ und „publiques Werk“ privilegiert, war der rechtliche Status der Stiftungen im 19. Jahrhundert bestenfalls unklar: eine Gemeinde wie in Herrnhut waren sie ebenso wenig wie eine Stiftung, ein Teil der Universität aber auch nicht und nur durch Intervention des Königreichs Westfalen mit zwei einst kommunalen Schulen der Stadt Halle verbunden. Weil nun auch die preußische Schulverwaltung keine Antwort auf diese Frage wusste, wurde es regelrecht zu einem „Lieblingsprojekt“ der preußischen Kultusminister, die systemfremden, aber königlich privilegierten Stiftungen in das neu aufgesetzte Bildungssystem zu integrieren, während andererseits die Direktoren auf ihren Rechten und der Autonomie der Stiftungen beharrten und sich dabei notfalls auch an den Monarchen wandten. Die Auseinandersetzungen zwischen beiden bzw. allen drei Seiten sollen im Projekt analysiert und auf das Spannungsfeld von Autonomie und zunehmendem Einfluss des Staates hin untersucht werden. Mit welchen Argumenten und Selbstbildern wurde hierbei die Autonomie der „Schulstadt“ verteidigt? Welche Rolle spielten Einheit und Vielfalt der Schulen in der Selbstdarstellung, welchen Einfluss hatten die konfessionspolitischen Verwerfungen insb. des Vormärz auf das Verhältnis beider Seiten und warum konnten die Stiftungen – im Gegensatz zu den mit gleichen Privilegien ausgestatteten Anstalten in Züllichau – ihre organisatorische Verfassung und (Teil-)Autonomie bewahren?

Der Entwicklung und Vermittlung dieser Selbstbilder in Stiftungsalltag und -festtag, also in der Binnenkommunikation zwischen Verwaltung, Schulen und erwerbenden Einrichtungen ebenso wie in der Auseinandersetzung mit Unterstützern und städtischem wie überregionalem Publikum gilt eine dritte Analysebene. Wie wurde hier mit dem längst verblassten pietistischen Geist umgegangen? Welche pädagogischen Ideen, Praktiken und Selbstbilder traten an die Stelle des Franckeschen Programms und seiner Institutionen? Wie wurde dieses Erbe überhaupt verhandelt und wie weit trug die mit der Markenbildung „Franckesche Stiftungen“ verbundene Historisierung Franckes und der eigenen Anstaltsgeschichte?

Das Projekt möchte mit Fragen dieser Art einen Beitrag leisten nicht nur zur vielfach eingeforderten „Nachgeschichte des Pietismus“, sondern auch zur Organisations- und Verwaltungsgeschichte privater und konfessioneller Schulen im 19. Jahrhundert.

Hofmeister, Hauslehrer, Hungerpastoren – Prekäre Akademiker auf dem Weg ins gebildete Bürgertum (1800-1938)

Prekäre Akademiker mit und ohne Beschäftigung sind seit den ersten Überfüllungskrisen des ausgehenden 18. Jahrhunderts gleichermaßen stete wie gefürchtete, der Forschung aber weitgehend unbekannte Begleiter des aufsteigenden Bildungsbürgertums. Der an ihnen offenbar werdende Widerspruch zwischen dem Versprechen auf gesellschaftliche Teilhabe qua Bildung, ja eigentlich auf eine Führungsrolle in der Gesellschaft und ihrer tatsächlichen oder doch als prekär empfunden sozialen Stellung und Abhängigkeit verdichtete sich dabei besonders in der Sozialfigur des armen Hauslehrers. Als Hofmeister war dieser bereits fester Bestandteil des vormodernen Bildungswesens, als Hauslehrer blieb er dies gerade auf dem Land auch das lange 19. Jahrhundert hindurch, bildete er vor allem für junge Theologen noch immer die typische Karenzposition für die oft jahrelange Amtssuche, mochten sich seine Stellung, seine pädagogischen Aufgaben und seine Wahrnehmung als Gebildeter und Bürgerlicher dabei auch verändert haben.

Den Hauslehrer zum Gegenstand eines auf Preußen bezogenen sowie international vergleichend angelegten Projektes über den unteren Rand des Bildungsbürgertums zu machen und hier nach dessen sozialer Lage, seiner pädagogischen Funktion und den Selbst- und Fremdwahrnehmungen als zwar prekärem, aber eben doch Gebildetem zu fragen, soll eine Reihe neuer Forschungsperspektiven ermöglichen:

  1. Bildungsgeschichtlich soll die bisher nur für das 18. Jahrhundert in Ansätzen erfasste Bedeutung der Hauslehrererziehung bis zu deren endgültigem Verbot 1938 untersucht und so unser Wissen um die Bildungswirklichkeit jenseits der Volksschulen und Gymnasien um eine wesentliche Dimension erweitert werden.
  2. In einer systematischen Analyse der Hauslehrermärkte der preuß. Provinz Sachsen, des Kgr. Sachsen sowie in Liv-/Kurland sollen dabei neben evangelischen Pfarramtskandidaten auch katholische und jüdische Hauslehrer miteinbezogen sowie strukturell vergleichbare Wege durch die prekären Phasen auf dem Weg ins gebildete Bürgertum nachgezeichnet werden.
  3. Sozialgeschichtlich ermöglicht dieser Zugriff zudem, bisher nur vereinzelt gestellten Fragen nach dem Bildungsbürgertum auf dem Land nachzugehen und deren spezifische Konstitution von Bürgerlichkeit an einem bisher vernachlässigten Beispiel zu untersuchen.
  4. Schließlich erlauben die auch literarisch vielfach gespiegelten Konflikte und Widersprüche, die sich in der armen Hauslehrerexistenz und seiner Stellung in Haus und Gesellschaft bündeln, einen Zugang zum Selbstverständnis des Bildungsbürgertums selbst, das hierin seinen unteren sozialen Rand reflektieren und die Rolle der „bloßen“ Bildung bestimmen konnte.


Das Bildungsbürgertum als soziale und kulturelle Formation bliebe, so die Hypothese des Projektes, unterbestimmt, wenn nicht auch dessen prekäre „Reservearmee“ an Hofmeistern und Hauslehrern als dessen Teil und der Umgang mit ihnen als Indikator seines eigenen gesellschaftlichen Status begriffen würde.

Weitere Forschungsschwerpunkte

  • Bürgertumsgeschichte
  • Sozialgeschichte der Bildung
  • Kirchengeschichte der Neuzeit
  • Ideen-, Begriffs- und Philosophiegeschichte
  • Griechische Antike und ihre Rezeption in der Moderne
  • George-Kreis
  • Max Weber

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